2024
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There are moments when
the past ceases to be a form
of the present.
Rain and tears
Look alike.
– Etel Adnan
Mit Garn umwickelte schwarze Stränge schlängeln sich durch eine gewebte Landschaft aus mit Nummerncodes bestickten Spanngurten. Darauf ist ein Stück Baumwollstoff, zuvor in Vulkanasche gedreht und gewälzt, fixiert. Mother of Time, Daughter of Destruction, your feet are light upon the water (2023) heißt diese großformatige Textilarbeit von Marei Loellmann. Sie ist ein Beispiel für die prozesshafte und materialfokussierte Praxis der Künstlerin, mit der sie das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung reflektiert. Loellmann sammelte die verwendete Asche im Umfeld des 2021 entstandenen Tajogaite-Vulkan auf La Palma, dessen Lava sich ihren Weg über die Insel bis ins Meer hinein bahnte und Plantagen, Häuser und Straßen unter sich begrub. Doch der Vulkan bedeutet für die lokale Bevölkerung nicht nur Zerstörung, sondern symbolisiert zugleich ein Ende und einen Anfang als Teil eines transformativen Prozesses: Die nährstoffreiche Vulkanasche speichert Sonnenlicht und Wasser, und schon kurze Zeit nach der Eruption brechen bereits grüne Triebe durch die hinterbliebenen meterhohen Berge von Asche und neues Leben entsteht. Dieses zyklische Verständnis von Leben und Natur steht im Gegensatz zur industrialisierten und kapitalisierten Welt, in der Fortschritt und Wachstum als zeitlich linear betrachtet werden. Die von Loellmann zu einer Fläche verwebten schwarzen Spanngurte zeugen mit ihren grün leuchtenden Ziffern von dieser von Systemen und Strukturen geprägten Welt. Doch der mit Asche bearbeitete Stoff, seine Falten und die eingearbeiteten wurzelartigen Stränge beginnen diese Struktur zu überlagern, eine noch karge Landschaft zu zeigen, die sich langsam ausbreitet. Einzelne Staubpartikel ändern je nach Lichteinfall ihre Erscheinung und verleihen dem Material Lebendigkeit. Durch die ungewöhnliche Kombination von Materialien, Strukturen und Farben fängt Loellmann einen ästhetisch-utopischen Moment der Verwandlung ein, einen Moment, in dem Vergangenes aufhört zu existieren, um etwas Neuem Platz zu machen.
Die Befragung des menschlichen Körpers in Interaktion mit seiner Umgebung spielt für Marei Loellmann, ausgebildet in Modedesign und Bühnenbild, eine wichtige Rolle. Von textilen Strukturen und ihrer Verfasstheit beeinflusst, setzt sich Loellmann auf einer materiellen Ebene mit vermeintlichen Gegensätzen auseinander. In ihrer Serie Dis-/Jointures (tapis concrète, 2018–2021) beginnt sie, einerseits inspiriert durch den die urbane Architektur dominierenden Beton und andererseits durch die Befragung von Begriff, Funktion und Ästhetik des Teppichs, die Parameter der von ihr verwendeten Materialien Schritt für Schritt zu verschieben. Aus Asche und verschiedenen Erden stellt sie einen Beton her, der flexibler ist als der aus Sand und Zement bestehende und ubiquitär sichtbare Baustoff der Bauindustrie. Die Asche ist eine aus der Luft gefilterte Flugasche, die bei der Verbrennung von Steinkohle entsteht. Mit Pigmenten angereichert, verbindet die Künstlerin die eingefärbten gegossenen Flächen mit Leder, Seide und anderen Stoffen zu collagierten Wandteppichen. In ihrer 2019 begonnenen Kooperation mit der Designerin Ebba Fransén Waldhör, U-D-B-U, entwickelte die Künstlerin die Beweglichkeit des Betons noch weiter. Ein feines Netz von beige-braunen gewebten Leinensträngen hält eine Zementschicht in der Senkrechten und sogar in der Schwebe – oder ist es umgekehrt, ist es der Zement, der das Gewebe hält? In dieser Serie von räumlich arrangierten Arbeiten verflüchtigen sich die Grenzen zwischen Träger und Getragenem, Festigkeit und Beweglichkeit, Vergänglichkeit und Permanenz. Loellmann befragt die Materialien auf ihre Eigenschaften hin, strapaziert die Annahmen menschlicher Wahrnehmung und bezieht sich damit auf ein Verständnis von Material, das die Philosoph*in und Quantenphysiker*in Karen Barad folgendermaßen beschreibt: „Materie wird produziert und ist produktiv, sie wird erzeugt und ist zeugungsfähig. Materie ist ein Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft von Dingen.“ (1) Die Idee einer Materie als „Agens“, also als treibende Kraft, umfasst eine Absichtlichkeit und Bewusstheit. Loellmanns Arbeiten veranschaulichen die Suche nach neuen Bedeutungsebenen durch das Einlassen auf die Wirkungskraft von Materialien und sind damit Sinnbild der wechselseitigen Einflüsse von Mensch und Umgebung.
In der Serie Crossings (2021–2022) heben sich die verschiedenen Komponenten farblich und kompositorisch stärker voneinander ab. Trägermaterialien sind auch hier zum Netz überkreuzte Fäden, die mit Zementmischungen aus der Flugasche von Braun- und Holzkohle übergossen sind – einzelne Rundungen oder Rechtecke lässt die Künstlerin jedoch aus. In diese webt Loellmann mit bunten Fäden Muster, eine detailgenaue und dementsprechend viel Zeit in Anspruch nehmende Arbeit, die sie als wesentlichen Teil ihrer Praxis begreift. Die Psychoanalytikerin Lisa Baraitser untersucht Momente von „time’s suspension“(2), das heißt: Momente der Aussetzung oder des Aufschubs von Zeit. Ausgangspunkt für Baraitsers Buch Enduring Time ist eine andere Idee von Zukunft, die nach dem Ende der Moderne den Glauben an Fortschritt und Entwicklung verloren hat. Für die Autorin gewinnen gerade deshalb jene Handlungen und Fähigkeiten eine besondere Relevanz, die auf die Gegenwart reagieren, anstatt in die Zukunft zu streben. Loellmanns fließende Collagen werden in langen, ausdauernden Prozessen angefertigt. Der Fokus auf die handwerkliche Fertigung ihrer Werke betont eine Verortung in der Gegenwart, in der ihre Hände arbeiten und stetig auf das Material eingehen. Die dafür aufgebrachte Zeit bleibt ins Material eingeschrieben, in dem Tätigkeiten wie Aufbrechen und Zusammenfügen parallel zueinander existieren. Die Auflösung einer linearen Vorstellung von Zeit nimmt im Sommer 2023 mit Time is no river but a lake, in which past, present and future flow into each other in Form einer schwimmenden textilen Installation auf der Spree in Berlin Gestalt an. Die Künstlerin verwendet dafür Schlamm vom Boden des Flusses, der seine braune Farbe der Anreicherung des Wassers mit Eisen als Folge des Bergbaus verdankt – ein Beispiel, das für den industriellen und landschaftlichen Wandel steht. Sie sammelt außerdem Flechten, Bakterien, Algen, Pflanzen und im Wasser liegende rostige Gegenstände, die in Prozessen des Trocknens und Gärens auf Stoffe übertragen werden. Die nicht-menschlichen Akteure werden hier zu Mitgestaltenden: Das Ergebnis sind Stoffe, die als Träger von Geschichte(n) und als Speicher von Erinnerungen fungieren. Sie erzählen von einer industriellen Welt und deren Auswirkungen und davon, wie sich die Vergangenheit in der Zukunft fortsetzt. Sie erzählen auch von den Verbindungen, die wir bewusst oder unbewusst tagtäglich mit anderen Wesen eingehen. Diese Verbindungen sind elementar und stoßen transformierende Prozesse an. Sie finden sich auch in der Arbeitsweise der Künstlerin: Immer wieder setzt sie sich Formen der Zusammenarbeit und damit der prozesshaften Annäherung verschiedener künstlerischer Positionen aus, zum Beispiel bei ihrer Arbeit im traces-Kollektiv. Die sowohl in ihren individuellen als auch in ihren kollaborativ entstehenden vielschichtigen Texturen zeugen von einer Poesie der Vergänglichkeit und Erneuerung.
Durch ihre prozesshafte Arbeitsweise und die Auseinandersetzung mit den Materialien bringt Loellmann die komplexen Verflechtungen des Menschen mit anderen handelnden Akteuren zum Vorschein und lässt dabei Kategorien wie ‚natürlich‘, ‚künstlich‘ oder ‚menschlich‘ ineinanderfließen. Wie von Barad gefordert, rückt in Loellmanns Werk die Handlungsfähigkeit von Materie in den Vordergrund – eine so grundsätzliche Verschiebung der Wahrnehmung, dass sowohl individuell internalisierte als auch gesellschaftlich determinierte Hierarchien auf dem Prüfstand stehen. Unsere Umgebung und die Stoffe, aus denen sie sich zusammensetzt, verändern sich kontinuierlich und damit auch das Verhältnis unseres Körpers zu ihnen. Dieses Verständnis von Beweglichkeit und das Einlassen auf die Wirkkraft von Materialien beschreibt die Künstlerin in Bezug auf ihre Werke als ein „aus den Praktiken herausmaterialisiertes Werden“(3). Wenn zum Beispiel der verwendete Beton beweglich ist oder feine Stofffäden zum Trägermaterial für eine Zementmischung werden, dann gelingt es der Künstlerin, neue materielle Parameter zu erschließen. Loellmanns Werke ermutigen uns, eingeprägte Annahmen in Frage zu stellen, und erinnern uns daran, dass Transformation ein kontinuierlicher Prozess ist, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untrennbar miteinander verwoben sind.
Tomke Braun
Waves of Time, erschien in Scratch the ground and you’ll find a little more sky, Katalog,
hgb. von dem Goldrausch Künstlerinnenprojekt
(1) Barad, Karen: Agentieller Realismus, Berlin 2012, S. 9
(2) Baraitser, Lisa: Enduring Time, London 2017, S. 2
(3) Statement der Künstlerin, 2023
2024
Ash from lignite plants and wood fire ash, raw silk, pieces of fabric, different yarns, cement
65x69x0,4cm
Photos: Michael Depasquale