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There are moments when
the past ceases to be a form
of the present.
Rain and tears
Look alike.
– Etel Adnan
Mit Garn umwickelte schwarze Stränge schlängeln sich durch eine gewebte Landschaft aus mit Nummerncodes bestickten Spanngurten. Darauf ist ein Stück Baumwollstoff, zuvor in Vulkanasche gedreht und gewälzt, fixiert. Mother of Time, Daughter of Destruction, your feet are light upon the water (2023) heißt diese großformatige Textilarbeit von Marei Loellmann. Sie ist ein Beispiel für die prozesshafte und materialfokussierte Praxis der Künstlerin, mit der sie das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung reflektiert. Loellmann sammelte die verwendete Asche im Umfeld des 2021 entstandenen Tajogaite-Vulkan auf La Palma, dessen Lava sich ihren Weg über die Insel bis ins Meer hinein bahnte und Plantagen, Häuser und Straßen unter sich begrub. Doch der Vulkan bedeutet für die lokale Bevölkerung nicht nur Zerstörung, sondern symbolisiert zugleich ein Ende und einen Anfang als Teil eines transformativen Prozesses: Die nährstoffreiche Vulkanasche speichert Sonnenlicht und Wasser, und schon kurze Zeit nach der Eruption brechen bereits grüne Triebe durch die hinterbliebenen meterhohen Berge von Asche und neues Leben entsteht. Dieses zyklische Verständnis von Leben und Natur steht im Gegensatz zur industrialisierten und kapitalisierten Welt, in der Fortschritt und Wachstum als zeitlich linear betrachtet werden. Die von Loellmann zu einer Fläche verwebten schwarzen Spanngurte zeugen mit ihren grün leuchtenden Ziffern von dieser von Systemen und Strukturen geprägten Welt. Doch der mit Asche bearbeitete Stoff, seine Falten und die eingearbeiteten wurzelartigen Stränge beginnen diese Struktur zu überlagern, eine noch karge Landschaft zu zeigen, die sich langsam ausbreitet. Einzelne Staubpartikel ändern je nach Lichteinfall ihre Erscheinung und verleihen dem Material Lebendigkeit. Durch die ungewöhnliche Kombination von Materialien, Strukturen und Farben fängt Loellmann einen ästhetisch-utopischen Moment der Verwandlung ein, einen Moment, in dem Vergangenes aufhört zu existieren, um etwas Neuem Platz zu machen.
Die Befragung des menschlichen Körpers in Interaktion mit seiner Umgebung spielt für Marei Loellmann, ausgebildet in Modedesign und Bühnenbild, eine wichtige Rolle. Von textilen Strukturen und ihrer Verfasstheit beeinflusst, setzt sich Loellmann auf einer materiellen Ebene mit vermeintlichen Gegensätzen auseinander. In ihrer Serie Dis-/Jointures (tapis concrète, 2018–2021) beginnt sie, einerseits inspiriert durch den die urbane Architektur dominierenden Beton und andererseits durch die Befragung von Begriff, Funktion und Ästhetik des Teppichs, die Parameter der von ihr verwendeten Materialien Schritt für Schritt zu verschieben. Aus Asche und verschiedenen Erden stellt sie einen Beton her, der flexibler ist als der aus Sand und Zement bestehende und ubiquitär sichtbare Baustoff der Bauindustrie. Die Asche ist eine aus der Luft gefilterte Flugasche, die bei der Verbrennung von Steinkohle entsteht. Mit Pigmenten angereichert, verbindet die Künstlerin die eingefärbten gegossenen Flächen mit Leder, Seide und anderen Stoffen zu collagierten Wandteppichen. In ihrer 2019 begonnenen Kooperation mit der Designerin Ebba Fransén Waldhör, U-D-B-U, entwickelte die Künstlerin die Beweglichkeit des Betons noch weiter. Ein feines Netz von beige-braunen gewebten Leinensträngen hält eine Zementschicht in der Senkrechten und sogar in der Schwebe – oder ist es umgekehrt, ist es der Zement, der das Gewebe hält? In dieser Serie von räumlich arrangierten Arbeiten verflüchtigen sich die Grenzen zwischen Träger und Getragenem, Festigkeit und Beweglichkeit, Vergänglichkeit und Permanenz. Loellmann befragt die Materialien auf ihre Eigenschaften hin, strapaziert die Annahmen menschlicher Wahrnehmung und bezieht sich damit auf ein Verständnis von Material, das die Philosoph*in und Quantenphysiker*in Karen Barad folgendermaßen beschreibt: „Materie wird produziert und ist produktiv, sie wird erzeugt und ist zeugungsfähig. Materie ist ein Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft von Dingen.“(1) Die Idee einer Materie als „Agens“, also als treibende Kraft, umfasst eine Absichtlichkeit und Bewusstheit. Loellmanns Arbeiten veranschaulichen die Suche nach neuen Bedeutungsebenen durch das Einlassen auf die Wirkungskraft von Materialien und sind damit Sinnbild der wechselseitigen Einflüsse von Mensch und Umgebung.
In der Serie Crossings (2021–2022) heben sich die verschiedenen Komponenten farblich und kompositorisch stärker voneinander ab. Trägermaterialien sind auch hier zum Netz überkreuzte Fäden, die mit Zementmischungen aus der Flugasche von Braun- und Holzkohle übergossen sind – einzelne Rundungen oder Rechtecke lässt die Künstlerin jedoch aus. In diese webt Loellmann mit bunten Fäden Muster, eine detailgenaue und dementsprechend viel Zeit in Anspruch nehmende Arbeit, die sie als wesentlichen Teil ihrer Praxis begreift. Die Psychoanalytikerin Lisa Baraitser untersucht Momente von „time’s suspension“(2) , das heißt: Momente der Aussetzung oder des Aufschubs von Zeit. Ausgangspunkt für Baraitsers Buch Enduring Time ist eine andere Idee von Zukunft, die nach dem Ende der Moderne den Glauben an Fortschritt und Entwicklung verloren hat. Für die Autorin gewinnen gerade deshalb jene Handlungen und Fähigkeiten eine besondere Relevanz, die auf die Gegenwart reagieren, anstatt in die Zukunft zu streben. Loellmanns fließende Collagen werden in langen, ausdauernden Prozessen angefertigt. Der Fokus auf die handwerkliche Fertigung ihrer Werke betont eine Verortung in der Gegenwart, in der ihre Hände arbeiten und stetig auf das Material eingehen. Die dafür aufgebrachte Zeit bleibt ins Material eingeschrieben, in dem Tätigkeiten wie Aufbrechen und Zusammenfügen parallel zueinander existieren. Die Auflösung einer linearen Vorstellung von Zeit nimmt im Sommer 2023 mit Time is no river but a lake, in which past, present and future flow into each other in Form einer schwimmenden textilen Installation auf der Spree in Berlin Gestalt an. Die Künstlerin verwendet dafür Schlamm vom Boden des Flusses, der seine braune Farbe der Anreicherung des Wassers mit Eisen als Folge des Bergbaus verdankt – ein Beispiel, das für den industriellen und landschaftlichen Wandel steht. Sie sammelt außerdem Flechten, Bakterien, Algen, Pflanzen und im Wasser liegende rostige Gegenstände, die in Prozessen des Trocknens und Gärens auf Stoffe übertragen werden. Die nicht-menschlichen Akteure werden hier zu Mitgestaltenden: Das Ergebnis sind Stoffe, die als Träger von Geschichte(n) und als Speicher von Erinnerungen fungieren. Sie erzählen von einer industriellen Welt und deren Auswirkungen und davon, wie sich die Vergangenheit in der Zukunft fortsetzt. Sie erzählen auch von den Verbindungen, die wir bewusst oder unbewusst tagtäglich mit anderen Wesen eingehen. Diese Verbindungen sind elementar und stoßen transformierende Prozesse an. Sie finden sich auch in der Arbeitsweise der Künstlerin: Immer wieder setzt sie sich Formen der Zusammenarbeit und damit der prozesshaften Annäherung verschiedener künstlerischer Positionen aus, zum Beispiel bei ihrer Arbeit im traces-Kollektiv. Die sowohl in ihren individuellen als auch in ihren kollaborativ entstehenden vielschichtigen Texturen zeugen von einer Poesie der Vergänglichkeit und Erneuerung.
Durch ihre prozesshafte Arbeitsweise und die Auseinandersetzung mit den Materialien bringt Loellmann die komplexen Verflechtungen des Menschen mit anderen handelnden Akteuren zum Vorschein und lässt dabei Kategorien wie ‚natürlich‘, ‚künstlich‘ oder ‚menschlich‘ ineinanderfließen. Wie von Barad gefordert, rückt in Loellmanns Werk die Handlungsfähigkeit von Materie in den Vordergrund – eine so grundsätzliche Verschiebung der Wahrnehmung, dass sowohl individuell internalisierte als auch gesellschaftlich determinierte Hierarchien auf dem Prüfstand stehen. Unsere Umgebung und die Stoffe, aus denen sie sich zusammensetzt, verändern sich kontinuierlich und damit auch das Verhältnis unseres Körpers zu ihnen. Dieses Verständnis von Beweglichkeit und das Einlassen auf die Wirkkraft von Materialien beschreibt die Künstlerin in Bezug auf ihre Werke als ein „aus den Praktiken herausmaterialisiertes Werden“(3). Wenn zum Beispiel der verwendete Beton beweglich ist oder feine Stofffäden zum Trägermaterial für eine Zementmischung werden, dann gelingt es der Künstlerin, neue materielle Parameter zu erschließen. Loellmanns Werke ermutigen uns, eingeprägte Annahmen in Frage zu stellen, und erinnern uns daran, dass Transformation ein kontinuierlicher Prozess ist, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untrennbar miteinander verwoben sind.
Tomke Braun
(1) Barad, Karen: Agentieller Realismus, Berlin 2012, S. 9
(2) Baraitser, Lisa: Enduring Time, London 2017, S. 2
(3) Statement der Künstlerin, 2023
(erschienen in der Publikation Scratch the ground and you will find a little more sky, 2024)
Black cords wrapped in yarn wind their way through a woven landscape of tension belts embroidered with numerical codes. Affixed to this surface is a piece of cotton fabric previously twisted and rolled in volcanic ash. This large-scale textile work by Marei Loellmann is titled Mother of Time, Daughter of Destruction, your feet are light upon the water (2023). It’s an example of the artist’s process-oriented and material-focused practice, in which she reflects on the relationship between humans and their environment. Loellmann collected the ash used in this work from La Palma’s Tajogaite volcano, which originated in 2021 – when lava made its way across the island all the way to the ocean, burying plantations, houses and streets. But to the local population, the volcano does not only mean destruction. It also symbolizes an ending and a beginning, both part of a transformative process. The nutrient-rich volcanic ash stores sunlight and water, and soon after the eruption, new life in the form of green shoots can be seen breaking through the meters-high piles of ash. This cyclical understanding of life and nature stands in contrast to the industrialized, capital-driven world in which progress and growth are viewed as temporally linear. The luminous green numerals stitched across the black tension belts woven into a single surface speak to this world shaped by systems and structures. But the fabric treated with ash, its folds and the root-like cords worked into it begin to permeate this structure, a still-barren landscape slowly taking shape. Individual particles of dust shape-shift with the changing direction of the light, imbuing the material with life. Through her unusual combination of materials, structures and colors, Loellmann initiates an aesthetic-utopian moment of metamorphosis, a moment in which the past ceases to exist in order to make room for something new.
The interrogation of the human body in interaction with its environment plays a significant role for Loellmann, who studied fashion and stage design. Influenced by textile structures and their composition, Loellmann confronts presumed opposites on a material level. In her series Dis-/Jointures (tapis concrète, 2018–2021), she rearranges the parameters of her materials step by step, inspired on the one hand by the concrete that dominates urban architecture, and on the other by her inquiry into the term, function, and aesthetics of carpets. Out of ash and different types of soil, she creates a more elastic concrete than the type made of sand and cement so ubiquitously visible in the construction industry. The fly ash is filtered out of the air, a byproduct of burning hard coal. The artist enriches the mixture with pigments and conjoins the dyed, cast pieces with leather, silk and other fabrics to create collaged tapestries. In a collaboration with designer Ebba Fransén Waldhör titled U-D-B-U that began in 2019, Loellmann expands further on the malleability of concrete. A fine web of beige-brown woven linen strands holds up a layer of cement in a vertical, even floating position – or is it the other way around, is the cement holding up the weave? In this series of spatially situated works, boundaries between carrier and carried, firmness and flexibility, transience and permanence dissipate. Loellmann investigates the qualities of her materials, agitating the assumptions underlying human perception and referencing an understanding of matter in the vein of philosopher and quantum physicist Karen Barad, who writes that “Matter is produced and productive, generated and generative. Matter is agentive, not a fixed essence or property of things.”(1) The idea of matter as “agentive,” as a driving force, incorporates an intentionality and a consciousness. Loellmann’s works illustrate the search for new levels of meaning through a receptivity to the power of matter, which makes them emblematic of the reciprocity of influence between humans and their environment.
In the series Crossings (2021–2022), different components are contrasted with one another through color and composition. Here, too, threads have been made into a net that holds the artworks. The artist pours cement mixtures of fly ash from brown coal and charcoal production over the mesh, hiding it from view save for individual curvatures or rectangles. Loellmann fills these by weaving patterns of brightly colored threads into them, a highly detailed and time-consuming task that she views as essential to her practice. Psychoanalyst Lisa Baraitser examines moments of “time’s suspension,” (2) meaning moments where time stops or is delayed. Baraitser’s book Enduring Time proposes a different idea of the future, one that has lost faith in progress and development after the end of modernity. For this reason, the author sets particular store in actions and abilities that respond to the present rather than striving into the future. Loellmann’s flowing collages are produced in long, enduring processes. Her focus on manually assembling her work emphasizes a grounding in the here and now, where her hands work, continuously engaged with the material. The time devoted to this process remains inscribed in the matter, in which activities of breaking open and piecing together exist parallel to one another. In the summer of 2023, Loellmann’s floating textile installation on Berlin’s Spree river titled Time is no river but a lake, in which past, present and future flow into each other gave form to the dissolution of a linear idea of time. Here the artist uses mud from the bottom of the river, which owes its brown color to the iron-enriched water – a result of mining and an example of industrial and topographical transformation. She also collects lichen, bacteria, algae, plants and rusted objects found in the water, which are transferred onto the fabrics in a process of drying and fermentation. The non-human actors become participants in the creative act, resulting in fabrics that carry stories and store memories. They tell of an industrial world and its implications, and of how the past carries on into the future. They also reflect connections we make, consciously or not, with other beings on a daily basis. These bonds are elementary and engender transformative processes. They can also be found in Loellmann’s way of working. Again and again, she probes new forms of collaboration, methodically familiarizing herself with different artistic positions, for example in her work with the traces collective. The multilayered textures produced both in her individual and her collaborative works all manifest a poetics of ephemerality and renewal.
Through her process-oriented approach and her exploration of matter, Loellmann reveals the complex interweaving of humans and other actors, allowing categories like “natural,” “artificial,” and “human” to coalesce. Loellmann’s work foregrounds matter’s capacity to act, as called for by Barad – provoking a shift in perception so profound that it calls into question hierarchies both individually internalized and socially determined. The world around us and the materials that shape it are in a state of constant flux, as is our bodily relationship with them. The artist describes this understanding of plasticity, as well as the choice to engage with the power of materials in her work as a “becoming materialized out of the practice.” (3) When concrete, for example, becomes physically malleable, or fine threads become capable of holding up a cement mixture, then the artist has succeeded in opening up new material parameters. Loellmann’s work encourages us to question ingrained assumptions and reminds us that transformation is a continuous process in which past, present and future are indivisibly interwoven.
Tomke Braun
Translated from German by Moira Barrett
2024
(1) Jensen, Thomas Bo; Dayer, Carolina; Foote, Jonathan. Imaginaries on Matter: Tools, Materials, Origins, ebook, 2023, p. 74.
(2) Baraitser, Lisa, Enduring Time, London 2017, p. 2
(3) Artist’s statement, 2023.